Arno Stern und die Formulation

 

Arno Stern, geboren 1924 in Kassel, wird als junger Mann, nach einer von Flucht und Verfolgung geprägten Kriegszeit, in einem Heim für Kriegswaisen in Frankreich angestellt. Seine Aufgabe ist dort, die Kinder mit künstlerischem Arbeiten zu beschäftigen. Hier entdeckt er, bei seiner intensiven Beobachtung der Kinder und ihrer zahllosen Bilder, jenes Phänomen, das er später die Formulation nennen wird. Er erkannte, dass jene unbewusste, unbeeinflusste spontane Spur, die jedes menschliche Wesen hervorbringt (wenn ihm die Freiheit hierfür gelassen wird!), im Rahmen eines allgemein gültigen Programms abläuft, also einer universellen Gesetzmäßigkeit unterliegt.  Bei zahlreichen Forschungsreisen in den Jahren zwischen 1967 und 1974 untermauert er Stück für Stück seine gewonnen Erkenntnisse. In Volksgruppen zwischen Afrika, Südamerika und Asien beobachtet er malende Menschen, die weder künstlerisch noch schulisch je belehrt worden sind.

    
© A. Stern

Und überall findet er die gleichen Formen und Figuren vor. Er versteht dadurch, dass die Informationen, nach denen diese Äußerungen ablaufen, in allen Menschen, unaghängig von Kultur, Ethnie und Geschichte, abgespeichert sein müssen. Neurobiologen wie Prof. Gerald Hüther fanden später heraus, dass der Mensch schon in der ersten Phase seiner Entwicklung im Mutterleib Erfahrungen sammelt, die sich der Sprache entziehen. Hüther nannte dieses Gedächtnis, diese Eintragung, die in den menschlichen Zellkernen zu finden ist, die „Organische Erinnerung“. In der Formulation ist es uns möglich, an diese Erinnerung anzuknüpfen. Hier kann sich etwas äußern, das sich der Vernunft, der Absicht entzieht.

Würde diese organische Erinnerung verloren gehen, wäre ein wesentlicher Aspekt unseres Menschseins ausgelöscht. Umgekehrt jedoch, wenn wir ungestört die Formulation in ganzem Umfang durchlaufen dürfen, finden wir zu unseren tiefsten Anfängen zurück. Denn dem Verlangen des Darstellens geht das Bedürfnis voran, nach sich selbst zu greifen.

Die Formulation ist also weder eine eigene Kunstgattung noch Bestandteil der Psychologie. Die Formulation ist so selbstverständlich und so natürlich wie etwa Laufen oder Sprechen. Sie entsteht aus einer dringenden inneren Notwendigkeit. Sie ist ein Ablauf, den zu stören oder zu verbiegen schädlichste Folgen für das Kind hat. Kommen wir auf das Beispiel des Laufen-lernens zurück. Früher glaubte man, dem Kind etwas Gutes zu tun, wenn man diesen Prozess beeinflusste und beschleunigte. Heute weiß man jedoch, wie wichtig es ist, hier jedes Kind seinem eigenen Rhythmus zu überlassen und wie entscheidend es für seine Entwicklung ist, beispielsweise die Phase des Krabbelns voll auszuleben. Und genauso verhält es sich mit den Entwicklungsschritten, die der Mensch beim Erzeugen einer sichtbaren Spur durchschreitet.

Die Formulation beginnt, wenn die Motorik des Kindes diese Spur erstmals ermöglicht. Hier stehen zwei Äußerungen, die ihren doppelten Anfang bilden:

Arno Stern nennt sie nicht „Gekritzel“, sondern wertschätzend „Giruli“ und die aus dem Beklopfen des Blattes entstehende Spur „Punktili“.

    

Aus diesen beiden Bewegungen entwickeln sich schrittweise die sogenannten Erstfiguren:

Aus Punkten werden Striche, Striche werden zu Kreuzungen gebracht, es entwickelt sich Rechtecke, Leiterfiguren, etc.

    

Die Giruli wiederum sind die Grundvoraussetzung um schließlich zum Kreis zu finden, dem später Strahlen angehängt werden oder ein Kern eingesetzt wird.

         

Es folgt der Moment, an dem beide Anfänge in komplizierteren Erstfiguren in Kombination auftauchen. Insgesamt sammelte Stern rund siebzig dieser Erstfiguren.

                   

Spätestens hier stellt das Kind eine Verbindung zu Bekanntem, Gesehenem aus seiner Welt her und es fallen ihm Ähnlichkeiten auf mit Gesehenem: Dieser Kreis mit den Strichen daran, sieht er nicht aus wie die Sonne oder wie eine Hand! Dieses Rechteck und die kleinen Kreise erinnern es an einen Wagen. Es findet für diese Figuren für den Verstand rechtfertigbare Begründungen.

In diesem Moment spricht Stern von den „Bilddingen“. Jedoch bleiben in all diesen Bilddingen die Erstfiguren, gleichsam einem zugrunde liegenden Gerüst, erhalten. Stern nennt dies „Trazate“.

Dies alles entwickelt sich nach seinen eigenen Gesetzmäßigkeiten. Dem Kind in diesem Prozess nun eigene Vorstellungen, ihm fremde Begriffe, aufzudrängen (etwa von realistischer Darstellung), ist keine Bereicherung sondern eine Behinderung, eine Verarmung. Hier erklärt sich Sterns rigoroses Ablehnen von jedweder Einflussnahme in den Schaffensprozess der Kinder. Dazu zählen das übliche Nachfragen (Na, was hast du denn da gemalt?) ebenso wie das überschwängliche Loben (Das ist aber ganz toll geworden – dein Hubschrauber!). Von kritisierenden und belehrenden Bemerkungen und Richtung weisenden Vorschlägen ganz zu schweigen.

Später, im Jugendalter, ist die Formulation der Vernunft untergeordnet. Dieser Abschnitt in ihrem Gesamtablauf, in dem das Spontane/ Unbewusste völlig verdrängt ist, ist jedoch von vorüber gehender Natur. Nachdem nämlich das Spontane verdrängt wurde kommt es wieder und verdrängt das Bedürfnis der genauen Wiedergabe. Dann ist die Vernunft kaum noch an der Aktion beteiligt und der Malende ist wieder eine ganz spontane Person. Dies ist die 3. Periode der Formulation. Die Phase der Hauptfiguren. In ihr ist das Wachsen selbst wichtiger als das Gewächs an sich. Hier kommt es vielmehr auf den Rhythmus an.

Wer das Malspiel als Erwachsener beginnt durchläuft natürlich nicht mehr jede einzelne dieser Phasen. Dennoch wird Versäumtes nachgeholt. Und da Erwachsene häufig noch nicht so starken kunsterzieherischen Einflüssen ausgesetzt waren, befreien sie sich bald von allem Belastenden und überwinden erste Hemmungen oft viel schneller als die Kinder.

ZUM WEITERLESEN:

Arno Stern:  Wie man Kinderbilder nicht betrachten soll

ISBN-13: 9783898833288

Arno Stern:  Das Malspiel und die Kunst des Dienens

ISBN-13: 9783927369924

Arno Stern:  Der Malort

ISBN-13: 9783856307578

Arno Stern:  Das Malspiel und die natürliche Spur

ISBN-13: 9783927369146

Gerald Hüther:  Die Macht der inneren Bilder

ISBN-13: 9783525462133

Gerald Hüther:  Mit Freude lernen – ein Leben lang

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André Stern:  Spielen, um zu fühlen, zu lernen und zu leben

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André Stern:  Begeisterte Kinder

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André Stern:  Werde, was du warst – Manifest für eine Ökologie der Kindheit

ISBN-13: 9783711001061

„Spiegel“-Artikel vom 02.06.2008
ANTHROPOLOGIE – Das Alphabet der Menschheit

 

Erwin Wagenhofer : Alphabet – Angst oder Liebe?
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